«Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung wechseln können.» Antoine de Saint-Exupéry
Viele Menschen erleben die heutige Arbeitswelt voller Widersprüche und Paradoxien. Einerseits wird uns ständig suggeriert, dass wir völlig freie, selbstbestimmte Individuen seien: Als Mitarbeiter stehen wir im Mittelpunkt, sind das wichtigste Potenzial, dürfen unsere Jahresarbeitszeit flexibel einsetzen, unsere Kreativität zur Entfaltung bringen und unser persönliches Entwicklungsziel definieren. Als Führungskraft stehen wir im Mittelpunkt, denn wir gestalten die Zukunft unserer Organisation.
Andererseits wird zugleich ein enormer Leistungsdruck erzeugt, indem uns die Medien, unser Umfeld und die Erfolgskennzahlen, an denen wir gemessen werden, vormachen, wir seien erst dann wirklich genügend wert, wenn wir die perfekte Zielerreichung, die perfekte Leistung, die perfekte Kundenzufriedenheit, ein perfektes Netzwerk und eine perfekte Oportunity-Pipeline vorweisen – und dies stets dynamisch und gut gelaunt, aber neuerdings auch demütig und achtsam.
Angesichts dieser Ambivalenz ist es kein Wunder, dass sich bei vielen Menschen ein chronisches Gefühl von Unzulänglichkeit entwickelt und damit verbundene stetige Selbstzweifel, innere Unruhe und Erschöpfung. Man nimmt sich als Spielball äusserer Kräfte wahr, ständig bemüht, seine vermeintliche Freiheit zu nutzen, zugleich immer neue, vorgegebene Ziele zu erreichen und obendrauf erfolgreiche Selbstmanager zu sein.
Klarheit erlangen: Was möchte ich erleben?
In unserer beschleunigten und unsteter werdenden Arbeitswelt, in der heute getroffene Entscheidungen morgen schon wieder korrigiert werden, in der vor lauter Optimierung und Zwang zu zeitraubendem Reporting kaum noch Raum zum gründlichen Nachdenken bleibt, kann es für den Einzelnen hilfreich sein, wieder bewusster mit sich selbst in Kontakt zu treten. Um nicht zwischen die Mühlsteine multipler und sich widersprechender äusserer Erwartungen zu geraten, bietet es sich an, sich von Zeit zu Zeit folgende Frage zu stellen: „Welches wäre in einer bestimmten Situation mein gewünschtes Erleben?“ Die Frage mutet auf den ersten Blick vielleicht ungewohnt an. Sie birgt aber die Chance in sich, auch in vordergründig fremdbestimmten Situationen, die Möglichkeitsräume, die in uns angelegt sind, dergestalt zu nutzen, dass wir mit unserem Dasein und Handeln wirksam sein können.
Ein Beispiel: Der Vertriebsmitarbeiter einer internationalen Medizintechnikfirma, der von seinen Kollegen und Kunden als angenehm, verträglich und zurückhaltend beschrieben wird, muss jeden Montagabend im Teams-Call antreten, um die erneute Nicht-Erreichung seiner Performanceziele zu begründen. Seine Vorgesetzte, die Stunden zuvor dasselbe Ritual mit ihrem Chef absolviert hat, zeigt ein wenig verständnisvolles und forderndes Verhalten. Das übliche Verhaltensmuster, das sich jeden Montagabend wiederholt, besteht aus einer Vorgesetzten, die Druck aufbaut und einem eingeschüchterten Vertriebsmitarbeiter, der sich entweder mit dünnen Argumenten rechtfertigt oder frustriert resigniert. Würde sich der Vertriebsmitarbeiter die Frage stellen „Welches wäre in dieser Situation mein gewünschtes Erleben?“, würde er vielleicht antworten: „Ich möchte mich gerne als weniger in die Ecke gedrängt und klein gemacht erleben.“ Positiv formuliert: „Ich möchte mich handlungsfähig, durch meinen Vorgesetzten respektiert und dadurch aufrecht erleben.“
Der Vertriebsmitarbeiter kann im Moment weder seine zu hoch angesetzten Ziele korrigieren noch seine unbeherrschte Vorgesetzte austauschen. Zugleich will er seinen Arbeitsplatz behalten. Mit Hilfe der Frage „Was wäre mein gewünschtes Erleben?“ gelangte er zu einem erstrebenswerten Ziel: „Ich möchte mich handlungsfähig, respektiert und aufrecht erleben.“ Wenn er nun denken würde „ich bin halt so, wie ich bin“ und statisch in seiner zurückhaltenden Persönlichkeit verharren würde, würde sein Stresslevel jeden Montagabend aufs Neue über die Massen beansprucht werden. Auch seine Vorgesetzte würde ihr gleichartiges destruktives Verhalten beibehalten, denn auch sie „ist halt so“. Ein eingespieltes Muster.
Die restlichen neun Zehntel der Persönlichkeit
Wäre es nicht besser, wenn der angepasste Vertriebsmitarbeiter mehr aus sich herausginge und sich behauptete? Psychologen bestätigen, dass es in speziellen Situationen von Vorteil sein kann, wenn man sich ganz bewusst anders verhält, als es die eigene Persönlichkeit vorgeben würde. Manchmal ist es einen Versuch wert, etwas zu tun, was einem gerade nicht im Blut liegt. In seinem Buch Flex: Do Something Different (2011) benutzt der Arbeits- und Gesundheitspsychologe Ben Fletcher das Verb to flex, was sich mit dehnen oder biegen übersetzen lässt. Er betont, dass es zuweilen besser sei, etwas zu tun, was gegen seine natürlichen Tendenzen geht. Fletcher ist überzeugt, dass jede Person über die Fähigkeit verfügt, unterschiedliche Personen zu verkörpern. Wenn man ihm glaubt, ist nicht nur offensiveres, selbstbehauptendes Verhalten erlernbar, sondern jedes andere. Mit Hilfe seines Trainingsprogramms lassen sich „die anderen neun Zehntel“ der eigenen Persönlichkeit entwickeln. Hierbei setzt er aufs Tun. „Mann kann einem Menschen nicht einfach sagen, er solle sich verändern. Ein Mensch muss etwas anderes tun, um Veränderung möglich zu machen.“
Hier setzt die So-tun-als-ob-Idee an. Man tut so, als ob der gewünschte Erlebenszustand bereits Realität wäre. Der Vertriebsmitarbeiter tut so, als ob er sich als handlungsfähig, motiviert und aufrecht erleben würde. Diese Idee mutet vielleicht simpel an. Doch sie kann Wirkung erzielen, sowohl für denjenigen, der sie anwendet, als auch für die Interaktionspartner, in unserem Beispiel auf den Vorgesetzten.
Die moderne Neurobiologie belegt, dass Erleben nie konstant ist und zu jeder Sekunde neu gestaltet wird durch die Fokussierung von Aufmerksamkeit und durch Bildung bzw. Reaktivierung von Netzwerken von Erlebniselementen. Damit ist gemeint, dass wir zu jeder Zeit durch neue Ereignisse in neue Erlebenszustände hineingeraten: Die Strassenbahnfahrt kann heute wegen der vielen Menschen als stressig erlebt werden und morgen als wunderbar, weil ich eine tolle Bekanntschaft gemacht habe oder mich in ein packendes Buch vertiefen konnte.
Der Vertriebsmitarbeiter könnte nun mit Hilfe der So-tun-als-ob-Idee ausprobieren, ob er erstens in seinem eigenen Erleben einen Unterschied erzeugen und zweitens durch sein verändertes Erleben sein Verhalten verändern und damit auch ein verändertes Verhalten beim Vorgesetzen auslösen könnte. Denn jeder Gedanke eines Menschen löst eigene Haltungen und Handlungen aus, auf die andere reagieren – und uns wiederum in dem bestätigen, was wir zu sein glauben. Der zurückhaltende Vertriebsmitarbeiter provoziert die ungebremsten Vorwürfe und Schuldzuweisungen seiner Chefin, weil sein Verhalten von der Selbsteinschätzung geprägt ist: „Diese Ziele kann ich eh nie schaffen.“ Und wer derart resigniert, hat bereits verloren.
Die Möglichkeiten, sich selbst seinem gewünschten Erleben näher zu bringen, sind deshalb grösser, als viele meinen. Jeder kann zumindest zeitweise über sich hinauswachsen, die Grenzen des eigenen Ichs erweitern. „Ich bin nun einmal so, wie ich bin, und kann nicht anders.“ Dieser Satz gerät damit zur bequemen Ausrede. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass die Welt sich immer schneller wandelt. Daraus resultiert der Zwang, ständig dran zu bleiben und sich weiterzuentwickeln. Aber das Unfertige in uns muss kein Mangel sein, sondern eine Chance. Es steckt immer eine Möglichkeit darin.
Welche Möglichkeiten das sein können, ist vielfach aufgezeigt worden, unter anderem durch eine 1979 durchgeführte Studie der Harvard-Psychologin Ellen Langer. Sie schickte eine Gruppe von Männern um die 80 für eine Woche auf eine Art Zeitreise in ein abgeschiedenes Wohnhaus. Alles war eingerichtet wie 20 Jahre zuvor, es gab sogar Musik wie vor 20 Jahren, und ebenso waren Zeitungen, das Fernsehprogramm und die Kleidung entsprechend angepasst. Vor allem aber durften die Männer nicht in der Vergangenheitsform über sich sprechen und nichts erwähnen, was nach 1959 stattgefunden hatte. Ihre Aufgabe war es, so zu tun, als ob sie im Jahr 1959 lebten. Die Verwandlung war absolut verblüffend: Die zu Beginn hilfsbedürftigen Männer kamen plötzlich wieder allein zurecht. Ihr Gehör, ihr Gedächtnis und ihre geistige Flexibilität verbesserten sich, der Blutdruck sank. Messungen an den Handwurzelknochen ergaben, dass diese stärker geworden waren. Nur so zu tun, als wären sie jünger, war für die Probanden ein wahrhafter Jungbrunnen.
In Fachkreisen werden die Studien von Ellen Langer in ihrer Methodik und Validität zum Teil heftig kritisiert. Zugleich ist es unbestritten, dass sich die So-tun-als-ob-Idee positiv auf das subjektive Erleben der Studienteilnehmer ausgewirkt hat, egal, ob deren Gesundheit tatsächlich nachhaltig verbessert wurde. Auch andere Wissenschaftler kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die So-tun-als-ob-Idee öffnet neue Möglichkeitsräume im eigenen Erleben und Handeln und wirkt unmittelbar auf das System ein, in dem wir uns gerade befinden.
«So tun, als ob» eröffnet neue Handlungsräume
Die So-tun-als-ob-Idee funktioniert in vielen Situationen. Sie kann bei der Realisierung des gewünschten Erlebens und der Gestaltung von Interaktionen gute Dienste leisten. Die nachfolgenden Beispiele werden von der kritischen Leserschaft vielleicht als nicht authentisch, weil gespielt abgetan. Jedoch hat die Entdeckung der Spiegelneuronen im menschlichen Gehirn unter anderem gezeigt, dass auch gespielte Gefühle beim anderen dieselben Resonanzreaktionen auslösen können wie tatsächliche Emotionsregungen. Solange das Einnehmen einer bestimmten Rolle sinnvolle Seiten hat, darf es als Ausdruck sozial-emotionaler Intelligenz betrachtet werden.
Deshalb lohnt es sich, einmal damit zu experimentieren und das Vorher und Nachher miteinander zu vergleichen: Wer glücklicher werden will, sollte sich benehmen, als wäre er schon froh, und sollte möglichst viel lächeln, das hebt die Stimmung. Wer selbstbewusster werden möchte, kann sich zum Beispiel lässig im Stuhl zurücklehnen und die Hände hinter dem Kopf falten. Wer sich weniger in die Ecke gedrängt fühlen möchte, könnte einen Platz im Zentrum des Tisches wählen und direkten Augenkontakt suchen. Wer respektiert werden möchte, nimmt eine bewusst aufrechte Körperhaltung ein. Wer möchte, dass man ihm zuhört, tut so, als ob er die wichtigste Botschaft vertreten würde, die heute geäussert wird – und wählt ganz unwillkürlich eine starke Sprache. Wer befördert werden möchte, könnte sich als ersten Schritt entsprechend kleiden. Wer ernst genommen werden möchte, ist ernst, lehnt sich nach vorne und verschafft sich Gehör.
Aber: So tun, als ob ist anstrengend. Um Überforderung vorzubeugen, ist es wichtig, sich bewusst Erholungsnischen zu schaffen. Das können Situationen oder Orte sein, in denen man so sein kann, wie man von Natur aus am ehesten ist. Eine weitere Voraussetzung dafür, dass das Aus-der-Rolle-Fallen jedoch nicht enorm anstrengend wird, ist, dass es dazu dient, einem echten, tiefen Erlebenswusch näherzukommen. Etwas, was uns von innen heraus bewegt. Das Streben nach dem Zustand dieser inneren Stimmigkeit gilt als einer der stärksten Antreiber im Leben.
Der Vertriebsmitarbeiter, den ich aus einer Beratung kenne, hat mit der So-tun-als-ob-Methode übrigens sein Selbstwertgefühl punktuell gesteigert und seine anspruchsvolle Chefin, wenigstens zeitweise, zu einem konstruktiveren Dialog bewegen können. Inzwischen wurde die Vorgesetzte entlassen.
Wenn Sie die So-tun-als-ob-Methode selbst ausprobieren möchten, können Sie folgendes tun:
Vergegenwärtigen Sie sich Ihren Erlebenswusch. Stellen Sie sich dann in allen Einzelheiten vor, wie es wäre, wenn dieser Wunsch erfüllt wäre:
Was würden Sie genau tun?Wie würden Sie sich bewegen?
Wie wäre Ihre Körperhaltung?
Was würden Sie anziehen?
Über was würden Sie sprechen und in welchem Tonfall?
Wie würden Sie sich fühlen?
Welche Musik würden Sie hören?
Tun Sie dann in einer bestimmten Situation so, als ob sich Ihr Erlebenswunsch bereits erfüllt hätte.
Vergleichen Sie anschliessend die Unterschiede zwischen vorher und nachher. Was hat Sie Ihrem gewünschten Erleben näher gebracht? Was hat Ihnen gut getan? Wo konnten Sie neue Dimensionen bei sich selbst entdecken?
In Kurzform heisst das: Erlebenswunsch bewusst machen und so tun, als ob dieser schon erfüllt sei. Neue Handlungsräume zeigen sich. Und das gibt neuen Schwung.
Weiterführende Literatur
Bauer, J. (2006): Warum ich fühle, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Claus, S. (2015): Mein allerbestes Jahr. Ziele erreichen – dem Leben Richtung geben. Paderborn: Junfermann.
Langer, E. (2011): Die Uhr zurückdrehen? Gesund alt werden durch die heilsame Wirkung der Aufmerksamkeit. Paderborn: Junfermann.
Foto: www.unsplash.com